Herzis.

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Vogelfrei

Die kleine Wendeltreppe, einstiger Spielplatz und Aufenthaltsort ihrer Kindertage. Sie sitzt weinend am untersten Treppenabsatz. Ein zierliches Mädchen von 16 Jahren. So unzählig oft hat sie an diese Zeit zurückgedacht.
Bewegungsdrang kommt in ihr hoch. Voller Sehnsucht nimmt sie die erste Stufe. Einen kurzen Moment verharrt sie. Dann die nächste Stufe. Gedankenverloren und mit einem Blick, der an eine Hypnosepatientin erinnert, schreitet sie die kleine Treppe hinauf.
Dritte Stufe, vierte Stufe. Ihr Gesicht hat nun sowohl Ausdruck, als auch jegliche Farbe verloren. Blass wie eine Porzellanpuppe.
Fünfte Stufe, sechste Stufe. Aus steigender Angst umzufallen, oder einem plötzlichen Schwindelanfall zu erliegen, greift ihre kleine, zarte Hand panisch nach dem ornamentierten Geländer.
Siebte Stufe, achte Stufe. Sie wankt, doch ihr von Hartnäckigkeit getriebener Kopf zwingt sie dazu, weiterzugehen. Sie steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Neunte Stufe, zehnte Stufe. Ihr Atem geht schwer. Sie keucht und spuckt Blut. Die Bulimie hatte schlimme Folgen hinterlassen, und schwer an ihrem Körper gezehrt. Sie spürt ihre Kräfte schwinden.
Fast ist sie oben. Sie kämpft mit den Tränen, realisiert, dass sie zu schwach ist. Schon zu sehr, um sich von ihrem eigenen Vorhaben abzubringen. Blos eine einzige Türe trennt sie noch vom Ende.
Sie befindet sich nun auf Höhe des vierten Stocks und redet sich ein, dass alles besser wird, spätestens, wenn sie frei ist und fliegt, wie ein Vogel. Es ist der einziger Traum, der ihr nicht auf zerstörerische Art genommen wurde.
Sie fühlt sich schwach und vollkommen ausgelaugt, als sie die schwere Türe aufstößt und den ersten Schritt in richtung Abgrund macht. Die Sonne scheint prall auf das einem Botanischen Garten nachempfundene Dach ihres Hauses. Ihre hellen Haare leuchten auf, wie ein Heiligenschein, der sich um ihren Kopf und die Schultern legt. Sie kann die Vögel zwitschern hören und ein kleiner, zitronengelber Schmetterling streift ihr rechtes Handgelenk. Ein Windstoß erfasst ihren dürren Körper und lässt sie zusammenzucken. Sie bemerkt, dass sie bereits am Ende des Weges steht, ohne jede Erinnerung, wie sie so schnell dort hingelangen konnte.
Langsam hebt sie ihr mageres linkes Bein, um sich mit hohem Kraftaufwand auf die kleine Mauer hieven zu können, die sie noch vor der Erfüllung ihres größten, und letzten Wunsches trennt.
Sie richtet sich auf und spürt den kühlen Wind, der ihren geschändeten Körper langsam hin und her wiegt. Von dort oben aus kann sie über alle Dächer der Stadt hinwegblicken. Keine einzige Wolke am Horizont. Ein perfekter Tag. Sie schließt ihre Augen.
Ein letzter Atemzug, dann lässt sie sich vorn über fallen, und fliegt.

Ist es nicht schön seine Träume zu verwirklichen?

3 Kommentare:

  1. Wundervoll geschrieben und traurig zugleich. Aber es weckt Erinnerungen. Wirklich atemberaubend schön. ♥

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  2. Du wurdest von mir getaggt!
    http://hope-secret.blogspot.de/2012/04/fragen-uber-fragen.html

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